T. Blank u.a. (Hrsg.): Die symphonischen Schwestern

Cover
Titel
Die symphonischen Schwestern. Narrative Konstruktion von 'Wahrheiten' in der nachklassischen Geschichtsschreibung


Herausgeber
Blank, Thomas; Maier, Felix K.
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Koehn, School of HASS, University of New England

Der ungewöhnliche, etwas angelsächsisch anmutende Obertitel des hier anzuzeigenden Sammelbandes nimmt Bezug auf ein im Louvre befindliches Gemälde des französischen Barockmalers Eustache Le Sueur, auf welchem die drei Musen Klio, Euterpe und Thalia als Gruppenbild dargestellt sind. Der Band selbst beruht auf Vorträgen einer 2015 veranstalteten Tagung in Freiburg/Breisgau. Die Herausgeber haben metaphorisch an Le Sueurs Darstellung angeknüpft, indem sie die drei Musen, mit Klio im Zentrum, „ins Gespräch“ setzen möchten. Während in Le Sueurs Gemälde Klio den anderen künstlerischen Musen beigesellt ist (und damit Teil der Kunst ist), aber zugleich von ihnen abgewandt dargestellt wird, liegt den Beiträgen die Frage nach dem Wechselspiel, der „Kooperation“, wie die Herausgeber es nennen, zwischen Historie und künstlerischer Darstellungsinstrumente zugrunde. Es geht somit letztlich um die alte Streitfrage, wieweit Geschichtsschreibung Kunst ist oder Wissenschaft, und wie stark der (prinzipiell auch in der Antike) vorhandene wissenschaftliche Anspruch, Wahres und nicht Fiktionales zu berichten, von darstellerischen und literarischen Kriterien beeinflusst und in seiner Ausführung gar behindert wird. In ihrer Einleitung gehen die Herausgeber kursorisch auf diese grundlegende Dichotomie von Forschung (historia strictu sensu) und adäquater Darstellung in der deutschen Historiographiegeschichte ein (wenngleich es dem Altmeister Hans-Joachim Gehrke vorbehalten ist, in seinem zusammenfassenden Kommentar am Schluss des Bandes die großen Erzähler der modernen deutschen Geschichtsschreibung beim Namen zu nennen – die Herausgeber zitieren aus Hans-Ulrich Wehlers strukturgeschichtlicher Invektive gegen die historische Erzählung von 1978, ohne aber auf die Gegenargumente des damals eher auf einsamem Posten kämpfenden Golo Mann hinzuweisen).

Wirklich eingelöst haben die Herausgeber ihren konzeptionellen Anspruch am Ende dann aber nicht. Es finden sich zwar (sehr solide) Beiträge zur historischen Argumentation und Darstellung in der attischen Rhetorik (Pierre Chiron, Katharina Wojciech), aber keine, die speziell etwa die poetische oder tragische Diktion und Stilistik in der Geschichtsschreibung untersuchen würden. Dabei geht den Herausgebern wie Beitragenden eben genau um diese Grenzgänge zwischen postulierter „Wahrheit“ einerseits und deren angemessener ästhetischer Darstellung andererseits, die zwangsläufig den Einflüssen benachbarter literarischer Genre ausgesetzt war (Geschichtsschreibung ist Prosa und als solche Abkömmling der Poesie). Nicht die Wahrhaftigkeit des Faktums an sich, sondern die zu seiner Präsentation verwendeten sprachlichen Mittel sind demnach das hier zu betrachtende (freilich nicht einzig) entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Wahrheitsanspruches narrativer Konstruktionen in der antiken Geschichtsschreibung. Es ist also ebenso eine Stilfrage der Aussage wie eine der Evidenz des Faktums. Der Ansatz und die zugrundeliegende Erkenntnis ist an sich nicht neu. Der russisch-amerikanische Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky hat dies einmal die „stilistische Doppeldeutigkeit“ der antiken Geschichtsschreibung genannt, „die entweder dem Überfluß an widersprüchlicher Evidenz oder nachdrücklich widersprüchlicher Einschätzung jener Evidenz geschuldet ist.“1

Der Band kann beides, Ansatz wie Erkenntnis, anhand ganz verschiedener Autoren und Texte auf breiter Basis durchspielen. Es liegt in der Natur solcher Sammelbände, dass sowohl die thematische Bezugnahme der einzelnen Beiträge zum Thema an sich als auch die der Beiträge untereinander ebenso ungleichmäßig bleibt wie deren jeweilige innere argumentative Qualität. Das Spektrum ist breit: Es reicht von klassischen, philologisch-hermeneutisch sauber ausgeführten Wortfelduntersuchungen wie der von Cinzia Bearzot zu pseudos in der griechischen Geschichtsschreibung (ein sehr passender Eröffnungsbeitrag für den Band) über erhellende Ausführungen zu Plutarchs Wahrheitsverständnis, das eben doch stärker für fiktionale Darstellungselemente offen ist als die neuere Forschung meint (Thomas Blank), und überzeugenden Darlegungen zur Rolle von Mustern („pattern“) im Geschichtswerk des Polybios, der über dieses Mittel der geradezu seriellen und damit vergleichbaren Präsentation das Faktische in ein Raster bringt, das unweigerlich zu Lasten der Wahrheitsfindung gehen muss (Emma Nicholson) bis hin zu weiterführenden Beiträgen zur Historiographie der Prinzipatszeit (Verena Schulze, Christoph Kugelmeier).

Mitunter bleiben die Ergebnisse hinter dem betriebenen Aufwand zurück. Jonas Grethleins an sich zustimmenswerte, aber letztlich wenig überraschende Erkenntnis, dass antike Geschichtsschreibung zur „vivid narration“ tendierte, um das Geschehene für die Leserschaft nachvollziehbar zu machen, hätte nicht unbedingt der eingehenden Ausführungen über das moderne literaturwissenschaftliche Theorem der „enactive narration“ bedurft, um zu überzeugen. Der Versuch einer strikten Applizierung literarkritischer Analyseparameter auf die antike Geschichtsschreibung ist als solcher sehr interessant und anregend. Aber es bleibt am Ende im wahrsten Sinne des Wortes im Auge des Betrachters, ob die Darbietung von detaillierten Beschreibungen tatsächlich eher „detract from, rather than add to, the vividness of their impression“ (Grethlein, S. 73). Die Eröffnungsszene von Heliodors Aithiopika zum Beispiel (bedauerlicherweise gibt es keinen Beitrag über die fiktionalen/non-fiktionalen Bezüge zwischen antiker Geschichtsschreibung und Romanliteratur) kann sich mit der von Grethlein angeführten Fontane’schen Szene aus Irrungen, Wirrungen hinsichtlich überbordendem Detailreichtums durchaus messen, aber das heißt nicht, dass diese Überfrachtung weniger „vivid“ wäre als eine Beschreibung/Erzählung von Handlungen (enactive narration); gleiches gilt für die Geschichtsschreibung (man denke an Plutarchs Kritik an Duris von Samos, FGrHist 76 F 67 und 70).

In Grethleins Beitrag erkennt man auch die Crux bei der Bewertung von Darstellungsmitteln in der Umsetzung des Wahrheitsanspruches: Liegen diese Darstellungsmittel im Auge des Betrachters, also Lesers eines Textes, oder im Ohr des Hörers, also Zuhörers eines Vortrags (wobei der Hörer ebenso wie der Leser zum „Zuschauer“ des Geschehens gemacht werden soll)? Grethlein zitiert zweimal Plutarch, der sich jeweils lobend zur enargeia („vividness“) im Werk des Thukydides und des Xenophon äußert, übersetzt aber den Adressaten der enargeia einmal mit „reader“ und einmal mit „listener“, wo doch Plutarch beide Male akroates verwendet, also „Hörer“. Dieses Detail ist ganz entscheidend, denn das ästhetische Kriterium des Darstellungsmittels ist ein anderes, wenn dieses nur einmal gehört wird, oder aber immer wieder gelesen werden kann. Die vielzitierte und auch in diesem Band von verschiedenen Beitragenden herangezogene Kritik des Polybios an der tragischen Diktion des Phylarch bei der Darstellung der Einnahme von Mantineia (II 56) hebt genau darauf ab. Die starken tragischen Stilmittel sind auf das einmalige Hören ausgelegt, im Gegensatz dazu hat laut Polybios die Geschichtsschreibung einen dauerhaften Anspruch, muss sich also in der Ausdrucksstärke eher zurückhalten als andere Literaturformen. Ein ähnliches Argument findet sich auch in den Fragmenten des Agatharchides von Knidos, dem Felix Maier einen Beitrag gewidmet hat, ohne freilich auf dessen Invektive gegen andere Autoren wegen Stilbrüchen bei der Beschreibung von durch Krieg und Naturkatastrophen gebeutelten Städteschicksalen in größerem Zusammenhang einzugehen (Agatharchides stellt dort die stilbeschreibenden Ausdrücke prepóntos [angemessen], embrithôs [würdevoll] und kyriología [direkte Aussage] positiv den Begriffen allegorikôs [allegorisch] und perittôs [überzogen] gegenüber). Polybios übrigens, so berühmt seine Kritik an der „tragischen“ Überfrachtung von historischer Narration auch ist, führt eigentlich ein Scheingefecht, um von der Tatsache abzulenken, dass bei der Einnahme Mantineias nicht nur die Bevölkerung zu leiden hatte, sondern als Strafmaßnahme schließlich die führenden Männer der Stadt hingerichtet wurden. Wie dies Phylarch dargestellt hat, verschweigt sein empörter Kritiker bezeichnenderweise. Polybios hat, wie einige der Beitragenden zurecht hinweisen, selbst seiner Darstellung ein hohes Maß an Anschaulichkeit gegeben, wobei er sich der Metaphorik der tragischen Bühnendarstellung keinesfalls entzogen hat.

Fazit: Obgleich der konzeptuelle Anspruch am Ende nicht eingelöst wird, und es eben doch hauptsächlich um Klio und nur am Rande um ihre beiden Schwestern geht, bietet der Band eine Fülle von Anregungen und gründlichen Untersuchungen. Die Herausgeber haben ihn sauber editiert, zu bemängeln ist lediglich das fehlende Gesamtverzeichnis der in den einzelnen Beiträgen zitierten Literatur am Ende. Somit fehlt ein summarischer Überblick über die Forschungslage. Dennoch scheint es, dass ein so zentraler Aufsatz wie der von Victor D’Huys zur Gewaltdarstellung in der antiken Geschichtsschreibung2 bedauerlicherweise von keinem der Beitragenden rezipiert worden ist.

Anmerkungen:
1 Joseph Brodsky, Das Lied des Pendels, in: ders. (Hrsg.), Flucht aus Byzanz. Essays, München 1988, S. 38–51, hier S. 42.
2 Victor D’Huys, How To Describe Violence In Historical Narrative, in: AncSoc 18 (1987), S. 209–250.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension